Kasseler Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht

Ruinöser Wettbewerb

Es war ein dramatischer Fall, von dem ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler den rund 250 Teilnehmer/innen der 14. Kasseler Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht am 12. November berichtete: Eine Pflegehelferin in einem Heim des privaten Trägers "Casa Reha", an einem Sonntag allein mit 21 Bewohnern, die sich nicht anders zu helfen weiß, als den Notruf 112 zu wählen. Ein dramatischer Fall, aber kein Einzelfall. Und kein Zufall. "Wir wissen, dass in vielen Einrichtungen an fast jedem Tag ein Notruf abgesetzt werden müsste", sagte Bühler. Als Ursache benannte sie den "ruinösen Unterbietungswettbewerb", der sich im Gesundheits- und Sozialwesen infolge politischer Entscheidungen entwickelt hat.

Von der marktwirtschaftlichen Preiskonkurrenz besonders betroffen ist die Altenhilfe - mit drastischen Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen und Bezahlung. Bühler verwies in diesem Zusammenhang auf eine aktuelle Studie der Universität Witten-Herdecke, wonach Beschäftigte in deutschen Pflegeheimen nachts für durchschnittlich 51,6 Bewohner/innen zuständig sind, von denen fast ein Drittel an Demenz leidet. "Es ist erbärmlich, dass Menschen mit einer solchen Verantwortung allein gelassen werden", kritisierte die Gewerkschafterin. Auch Tarifverträge seien in der Altenhilfe inzwischen eher die Ausnahme. Das zu ändern, werde allein mit gewerkschaftlichen Mitteln auf absehbare Zeit nicht gelingen, gab Bühler zu bedenken. Deshalb setze ver.di auf die Schaffung allgemeinverbindlicher Tarifverträge, die auch bei nicht-tarifgebundenen Trägern wirken.

Bei manchen Arbeitgebern stößt die Gewerkschaft mit diesem Vorhaben auf offene Ohren. So bei Rifat Fersahoglu-Weber, Vorsitzender des AWO-Bezirksverbands Braunschweig und des bundesweiten Arbeitgeberverbands der Arbeiterwohlfahrt. Auf der von der Zeitschrift Arbeitsrecht und Kirche gemeinsam mit ver.di, der Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaften der Mitarbeitervertretungen in der Diakonie (buko agmav + ga) sowie der Diakonischen ArbeitnehmerInnen Initiative (dia e.V.) organisierten Tagung sprach er sich klar gegen einen Wettbewerb um die niedrigsten Lohnkosten aus.

Selbstkritisch berichtete Fersahoglu-Weber, wie auch die AWO auf die verschärfte Konkurrenz zunächst mit Tarifflucht reagiert hatte. Die Folgen der Entwicklung seien niedrigere Löhne, aber auch sinkende Pflegesätze und eine Expansion privater Träger, die ihren Marktanteil in Niedersachsen auf 60 Prozent verdoppelt haben. "Wir haben erkannt: Der Lohnwettbewerb nach unten ist für uns nicht zu gewinnen", so der AWO-Funktionär. Deshalb habe sich die Arbeiterwohlfahrt dafür entschieden, gemeinsam mit ver.di allgemeinverbindliche Tarifverträge in der Altenpflege anzustreben. Ein "Testballon" sei die bereits geschlossene Tarifregelungen für Altenpflege-Azubis in Niedersachsen und Bremen. Ob diese für allgemeinverbindlich erklärt werden, soll sich im Dezember entscheiden.

"Jetzt wollen wir den nächsten Schritt gehen", kündigte Fersahoglu-Weber an. In einem Tarifvertrag für die Altenhilfe in Niedersachsen und Bremen sollten Löhne, Arbeitszeiten, Urlaub, Zuschläge und die Jahressonderzahlung festgeschrieben und für allgemeinverbindlich erklärt werden. Eine Angleichung an das Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) - das von privaten Trägern um bis zu 30 Prozent unterschritten werde - könne allerdings nur schrittweise erfolgen, betonte der AWO-Vertreter. Entscheidend sei die Beteiligung der Diakonie an dem Tarifvertrag. Diese werde die Diskussionen über Tarifverträge in kirchlichen Einrichtungen auch bundesweit befördern, vermutete Fersahoglu-Weber.

Sylvia Bühler, Leiterin des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen, betonte, die Botschaft allgemeinverbindlicher Tarifverträge sei nicht, dass sich die Beschäftigte zurücklehnen könnten. "Wenn wir etwas erreichen wollen, brauchen wir gut organisierte Belegschaften", erklärte die Gewerkschafterin. Das gelte auch für die Beschäftigten kirchlicher Einrichtungen, die sie aufforderte, aktiv zu werden - zum Beispiel durch eine Unterstützung von Tarifaktionen im öffentlichen Dienst. "Zeigt euch!", appellierte sie an die in Kassel versammelten Interessenvertreter. "Es ist an der Zeit, die eigenen Interessen in die Hand zu nehmen und etwas für sich selbst zu tun."

Daniel Behruzi