Streik ja, aber nur ein bisschen

von Franz Segbers

Die Erwartungen hätten kaum höher sein können: Dürfen kirchliche Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen streiken? Sie tun es immer häufiger, obwohl Caritas, Diakonie und Kirche auf einem strikten Streikverbot bestehen. Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht entschieden: Der »Dritte Weg« der Kirchen bleibt. Allerdings bekommen die Gewerkschaften einen Fuß in die Tür.

Kein Wunder, dass die Diakonie gegen einen Streik, den Ver.di durchgeführt hatte, klagen würde. Die Gewerkschaft hatte beim Landesarbeitsgericht Hamm Recht bekommen und die Diakonie hatte gegen dieses Urteil ihrerseits Klage beim Bundesarbeitsgericht eingelegt.

Ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske hatte im Vorfeld der Entscheidung vom 20. November 2012 in Erfurt von einem »historischen Tag für die Gewerkschaften« gesprochen und der Präsident der Diakonie, Johannes Stockmeier, kündigte an, das Bundesverfassungsgericht anrufen zu wollen, wenn Diakonie und Kirche vor dem Bundesarbeitsgericht verlieren sollten.

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden: Die Gewerkschaft hat Recht bekommen. Beschäftigte bei Diakonie und Kirche dürfen streiken. Die Klage der Diakonie gegen den Streik wurde abgewiesen. Die Diakonie wird dennoch wohl nicht nach Karlsruhe gehen. Es ist ein Sieg, der sich als Niederlage erweisen könnte – für die Kirche und die Gewerkschaft.

Denn bei genauerer Betrachtung hat das Bundesarbeitsgericht eine Güterabwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, zu dem der Dritte Weg gehört, und dem Grundrecht als Grundrecht vorgenommen. Ver.di zählt es als Sieg, wenn das Streikrecht für jedermann und ohne Einschränkung gilt: für Beschäftigte in verkündigungsnahen Tätigkeiten wie der Pflege und Beschäftigten in verkündigungsfernen Tätigkeiten wie Reinigung und Kantine.

Das Gericht hat zwei konkurrierende Rechte gelten lassen – ein Patt

Doch das Streikrecht kollidiert mit dem Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung. Wie können die beiden Rechte ausbalanciert werden? Die Lösung der höchstrichterlichen Güterabwägung lautet: Wollen die Kirchen ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen – ok. Dann aber dürfen auch die Gewerkschaften ihr Grundrecht auf Streik umsetzen.

Die Diakonie muss allerdings zwei Bedingungen erfüllen: Sie muss den Dritten Weg so gestalten, dass die Gewerkschaften organisatorisch eingebunden werden. Und sie muss ein einheitliches Tarifrecht für alle Beschäftigten schaffen. Gegenwärtig nämlich gibt es dutzende konkurrierende Tarife in der Diakonie, zwischen denen diakonischen Arbeitgeber einen ihnen genehmen günstigeren Tarif auswählen können. Sie treiben dadurch einen innerdiakonischen Unterbietungswettbewerb an. Da zahlt das Augustinum in Hessen und Nassau nach dem bayerischen Diakonietarif und der Johannisstift nach einem Osttarif in Hannover.

Die großen, länderübergreifenden diakonischen Unternehmen können eine einheitliche Vergütungsstruktur nicht mehr über einen Dritten Weg aushandeln. Damit soll es nach den Auflagen des Bundesarbeitsgerichts Schluss sein. Hier steht jetzt die Diakonie in der Bringschuld, die Bedingungen zu erfüllen! Ob sie aber diese Bedingungen auch verbandspolitisch erfüllen kann?

Solange aber Kirche und Diakonie diesen Bedingungen nicht gerecht werden, hat jeder Beschäftigte das volle Streikrecht. Und davon werden die Beschäftigten kräftig Gebrauch machen, so Günter Busch, stellvertretender Bezirksleiter von Ver.di in Baden Württemberg. Er nannte das Erfurter Urteil einen Erfolg: »Jetzt können wir die Kirchen mit dem vollen Streikrecht unter Drucksetzen. Niemand hätte dies je geglaubt, dass wir das Recht bekommen.«

Und die Kehrseite? Ver.di hat zwar vor Gericht gewonnen. Doch deshalb ist ihr auch der Gang nach Karlsruhe verwehrt. Ob der Kompromiss des Bundesarbeitsgerichts aber verfassungskonform ist, kann Ver.di nun nicht prüfen lassen. Denn eines ist überdeutlich geworden: Das Gericht hat das Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung kräftig bestätigt. Es wollte sich wohl nicht in dieser verfassungspolitisch hochsensiblen Frage mit den Kirchen anlehnen. Deshalb hat das Gericht auch den »Dritten Weg« der Kirchen samt der Dienstgemeinschaft aufgewertet.

Es gäbe zwei Wege: den einen mit Tarifverträgen und Arbeitskampf. Und den anderen, den die Kirchen aus ihrem Selbstbestimmungsrecht gewählt hätten. Deshalb hätten die Kirchen das Recht, auf ihrem Dritten Weg die Arbeitsbedingungen in zahlenmäßig paritätisch zusammengesetzten Kommissionen auszuhandeln.

»Selbstbestimmung sieht anders aus!«

Ein den Gewerkschaften nahe stehende Jurist kommentierte das Urteil bitter: »Die Einladung ergeht an die Gewerkschaften, beim Dritten Weg mitzumachen, den die Kirchen nach ihren Vorstellungen festgelegt haben. Koalitionsfreiheit und gewerkschaftliche Selbstbestimmung sieht anders aus!«
 

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Franz Segbers, geboren 1949 im Ruhrgebiet, ist Professor für Sozialethik an der Universität Marburg. Er war am gestrigen Dienstag im Erfurter Gerichtssaal bei der Entscheidung über das Streikrecht in den Kirchen live dabei.

Bis 2012 war  Segbers Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz; bis 2011 war er Referent für Arbeit, Ethik und Sozialpolitik im Diakonischen Werk Hessen und Nassau.
 
Franz Segbers, 21.11.2012