Hintergrundinformationen von Frank Bsirske zur BAG-Entscheidung am 20.11
Am 20. November 2012 entscheidet das Bundesarbeitsgericht über das Streikrecht - ver.di Vorsitzender Frank Bsirske informiert in einem Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages über die Hintergründe. - Wir drucken diesen Brief hier ab:
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
am 20. November 2012 wird das Bundesarbeitsgericht darüber entscheiden, ob Beschäftigte in kirchlichen Wirtschaftsunternehmen streiken dürfen. Mit diesem Schreiben möchten wir Ihnen die Hintergründe der Auseinandersetzung verdeutlichen.
Ein Gerichtsurteil historischen Ausmaßes steht bevor. Im Gegensatz zu anderen Ländern und zum Vatikan (!!), haben die Kirchen mit der Gründung der BRD die freie Ausgestaltung arbeitsrechtlicher Bedingungen in Tarifverträgen zwischen gleichberechtigten und voneinander unabhängigen Vertragsparteien (Arbeitgeber und Gewerkschaften) abgelehnt.
Die Kirchen haben sich damals auf ihr Selbstordnungsrecht zurückgezogen, die Arbeits- und Entgeltbedingungen in eigenen Organisationsformen - in kircheninternen arbeitsrechtlichen Kommissionen - zu vereinbaren. Sie haben allerdings auf eine eigene Regelungskompetenz insofern verzichtetet, als dass sie regelmäßig den BAT (später in einigen Bereichen TVöD, Tarifvertrag öffentlicher Dienst) für ihre Wirtschaftsunternehmen übernahmen.
Der Bundesangestelltentarif (BAT) war bis Mitte der 90er Jahre prägend für das gesamte Lohngefüge in der sozialen Daseinsvorsorge, die von gemeinnützigen und öffentlichen Trägern umgesetzt wurde. Die Kosten wurden in der Regel refinanziert. Maßgebliches Instrument für die Bezahlung der Personalkosten war eben jener BAT. Über genehmigte Stellenpläne regelte sich auch die Finanzierung staatlicher Institutionen oder Sozialkassen. Auf diese Weise wurde der gesellschaftliche Preis der sozialen Dienstleistungen bestimmt.
Mit Änderung der Refinanzierung der anfallenden Kosten, hin zu Leistungs- und Fallpauschalen sowie Vergabevorschriften, wie „nur noch der preisgünstigste Anbieter“, wurde das Kostendeckungsprinzip abgelöst. Seit Mitte der 90er Jahre wurde der gesamte soziale Sektor nach und nach einem Wettbewerb unterworfen, der über den Konkurrenzdruck Preis- und Personalkostensenkungen bis heute nach sich zieht. Die flächendeckende Schutzfunktion des ehemaligen BAT wurde damit nachhaltig geschwächt.
Als Folge dieser Politik wird Arbeit in zunehmendem Maße auch in kirchlichen Wirtschaftsunternehmen entsichert und schlechter bezahlt. Das drückt sich aus über Ausgründungen, diverse einzelarbeitsvertraglichen Sonderregelungen, Einsatz von Leiharbeit sowie eine grundsätzliche Abkehr vom Vergütungsniveau des Öffentlichen Dienstes, um Lohnkosten zu senken. Die Studie der Hans- Böckler-Stiftung „Leiharbeit und Ausgliederung in diakonischen Sozialunternehmen: Der "Dritte Weg" zwischen normativem Anspruch und sozialwirtschaftlicher Realität“ zeichnet diesen Weg in der Diakonie eindrucksvoll nach.
Mit dieser Entwicklung einher geht die Tatsache, dass innerhalb der Diakonie und Caritas die internen Regelungsmechanismen in arbeitsrechtlichen Kommissionen zur Vereinbarung von Lohn- und Arbeitsbedingungen an ihre Grenzen stoßen. Die Beschäftigten können eben nicht auf gleicher Augenhöhe mit einem Arbeitgeber verhandeln, sie sind strukturell zu unterlegen.
Immer mehr Beschäftigte in kirchlichen Wirtschaftsunternehmen der Diakonie (und Caritas) sind mit der Situation zutiefst unzufrieden. Sie organisieren sich in ver.di und verlangen mit ihrer Gewerkschaft, dass die Unternehmen Tarifverhandlungen über die Lohn- und Arbeitsbedingungen aufnehmen. Es gibt erste Erfolge: den Beschäftigten des Unternehmens der Diakonie „Himmelsthür“, die Jugend- und Behindertenhilfe leisten, des ev. Krankenhauses in Oldenburg sowie der Krankenhäuser Diakonieklinikum und Albertinen in Hamburg ist es gelungen gemeinsam mit ver.di ordentliche Tarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz abzuschließen, und das auf dem Niveau des TVöD.
Leider sind nicht alle Arbeitgeber von kirchlichen Einrichtungen so lösungsorientiert. In einem evangelischen Krankenhaus in Bielefeld haben bereits 2009 die Beschäftigten mit ihrer Gewerkschaft für die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen einen Warnstreik durchgeführt. Der Arbeitgeber hat dagegen geklagt und wollte den Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft das Streikrecht untersagen lassen. Diese und ähnliche Auseinandersetzungen sind der Ausgangspunkt für das anstehende Bundesarbeitsgerichtsurteil am 20. November.
Ver.di möchte Tarifverhandlungen, Streikrecht und Mitbestimmungsrechte auch für alle Beschäftigten von kirchlichen Einrichtungen erreichen. Dieses Grundrecht auf die freie Wahl der Mittel in Tarifauseinandersetzungen (also auch das Streikrecht) ist im Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes verankert. Das Streikrecht ist darüber hinaus Grundrecht in der Europäischen Union Art. 28 der Grundrechtecharta sowie ein Menschenrecht nach Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
„Die modernen Gewerkschaften sind aus dem Kampf der Arbeitnehmer, der Arbeiterschaft und vor allem der Industriearbeiter, für den Schutz ihrer legitimen Rechte gegenüber den Unternehmen und den Besitzern der Produktionsmittel entstanden. Ihre Aufgabe ist die Verteidigung der existenziellen Interessen der Arbeitnehmer in allen Bereichen, wo ihre Rechte berührt werden. Die historische Erfahrung lehrt, dass Organisationen dieser Art ein unentbehrliches Element des sozialen Lebens darstellen. Das bedeutet freilich nicht, dass nur Industriearbeiter Vereinigungen dieser Art errichten können. Die Angehörigen aller Berufe können sich ihrer zur Sicherung der jeweiligen Rechte bedienen“. (Papst Johannes Paul II.: Enzyklika Laborm Exercens; 1981).
Das frühere Kirchenoberhaupt Papst Johannes Paul II. bringt es mit dieser Aussage auf den Punkt. „Die Angehörigen aller Berufe können sich ihrer zur Sicherung der jeweiligen Rechte bedienen.“ Dazu gehören Tarifverhandlungen und auch das Grundrecht, streiken zu dürfen. Das muss für alle Beschäftigten gelten. Beschäftigte in kirchlichen Wirtschaftsunternehmen sind keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dritter Klasse.
Wir werden Sie zeitnah über das Urteil des Bundesarbeitsgerichts am 20. November 2012 informieren.
Mit freundlichen Grüßen
Frank Bsirske
(Vorsitzender)
Ellen Paschke
(Mitglied des Bundesvorstands)
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ver.di: Bundesarbeitsgericht entscheidet über Streikrecht am 20.11.2012.pdf | 106.36 KB |