Hohe Tarifbindung in der Diakonie – Dichtung und Wahrheit
Vorbemerkung
Immer wieder behaupten Vertreter der Diakonie, diese verfüge über eine hohe Tarifbindung ihrer Beschäftigten. Am 12. Juli war in einer Pressemeldung von 80 Prozent die Rede. Im Umkehrschluss bedeutet dies, jede fünfte Mitgliedseinrichtung eines Diakonischen Werkes hält sich nicht an die vorgegebene Satzung. Unabhängig hiervon bezweifelt ver.di den Wahrheitsgehalt dieser Meldung. Dazu in Kurzform einige Fakten:
Der Begriff „Tarifbindung“
Immer wieder benutzen kirchliche Arbeitgeber öffentlich den Begriff Tarif. In den von den Kirchen selbst jedoch erlassenen, arbeitnehmerseitig nicht mitbestimmten Ordnungen sprechen diese immer von Arbeitsrechtregelungen, die von den Arbeitsrechtlichen Kommissionen zu beschließen sind. Hier liegt also eine Begriffsverwirrung vor. Der Begriff Tarif ist nämlich abzuleiten vom „Tarifvertragsgesetz“, einem vom Deutschen Bundestag beschlossenen Gesetz, welches Einzelheiten zum Abschluss von Tarifverträgen zwischen Arbeitgebern bzw. ihren Verbänden einerseits und den Gewerkschaften andererseits regelt. Letztere sind jedoch im Konzept der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen und den betrieblichen Mitarbeitervertretungsgesetzen gar nicht vorgesehen. Folglich kann es auch keine Tarifbindung geben. Diese ist im Tarifvertragsgesetz eindeutig geregelt. Lediglich in zwei Landeskirchen und einigen Diakoniebetrieben werden tatsächliche Tarifverträge verhandelt und abgeschlossen.
Korrekter wäre es also, vom diakonischen Arbeitsrecht („Dritter Weg“) zu sprechen.
Die rechtliche Einordnung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen
Alle von den kirchlichen Kommissionen erlassenen Regelungen bedürfen einer expliziten Vereinbarung im Arbeitsvertrag, um für den einzelnen Beschäftigten wirksam zu werden. Deshalb heißt die „Leitwährung“, nach der in der Diakonie entlohnt wird, auch Arbeitsvertragsrichtlinie. Es liegt in der Natur der Sache, dass abweichende Regelungen dieser Richtlinien im Arbeitsvertrag vereinbart werden können. Niemand kann das kontrollieren. Diesbezügliche Rechte der Mitarbeitervertretungen existieren nicht. Lohnhöhen, Arbeitszeiten, Zulagen, Urlaube, Freizeitregelungen und vieles mehr sind so abweichend von den eigenen Richtlinien arbeitsvertraglich möglich.
Die diakonische arbeitsrechtliche Landschaft ist vielfältig bis undurchsichtig
Bis heute existiert weder vom Bundesverband der Diakonie noch vom Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands (VdDD) aktuelles statistisches Material, das die rund 27 000 Einrichtungen zweifelsfrei arbeitsrechtlich einordnet. Bisherige Veröffentlichungen zeigen unterschiedlichste Regelwerke, die von 16 Arbeitsrechtlichen Kommissionen verfasst wurden. Vergleiche durch ver.di ergeben immer wieder deutliche Abweichungen – nach unten – zum Referenztarifvertrag des öffentlichen Dienstes. Vergleiche mit kirchen- und diakoniespezifischen Regelungswerken ergeben einen ähnlichen Flickenteppich. Ausgegliederte Firmen sind flächendeckend nachweisbar, wie es im gesamten Sozial- und Gesundheitswesen inzwischen üblich ist. Die jeweiligen arbeitsrechtlichen Regelungen sind dementsprechend kaum transparent.
Eine Aufhebung dieser prekären Situation für die Beschäftigten ist nur über eine flächendeckende tarifvertragliche Regelung möglich. Und auch wer auf das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen pocht, müsste eine kirchenrechtliche Gesetzgebung anstreben, die hier umgehend Abhilfe schaffen würde.
Die landeskirchlichen und diakonischen Satzungen sind unterschiedlich und beliebig
Eine Betrachtung der Satzungen aller landeskirchlichen Diakonien (insgesamt 25) lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Eine behauptete Tarifbindung in Höhe von 80 Prozent im Sinne des diakonischen Arbeitsrechts ist ausgeschlossen. Eingeschränktes und uneingeschränktes Wahlrecht kirchenrechtlicher Regelungswerke, sowie diverse Befreiungsmöglichkeiten von Satzungsverpflichtungen führen zu Entgeltstrukturen und Arbeitsbedingungen, die von Außenstehenden nicht mehr zu durchschauen sind. Lediglich in fünf Diakonischen Werken finden sich zwingende satzungsrechtliche Verpflichtungen, wobei diese – arbeitsrechtlich betrachtet – keine Relevanz haben. Denn entscheidend ist die Vereinbarung im Arbeitsvertrag. So hat denn auch die Synode der EKD in ihrer Kundgebung zum kirchlichen Arbeitsrecht im November 2011 einen „verbindlichen Leittarif und einen bundeseinheitlichen Rahmen mit gemeinsamen Regelungen“ gefordert.
Landesübergreifende Konzerne wenden unterschiedliche Arbeitsrechtsregelung an
In der Diakonie gibt es kein Unternehmen mit länderübergreifenden Betrieben, das einheitliche arbeitsrechtliche Regelungswerke anwendet, bzw. einen Konzerntarifvertrag mit ver.di abgeschlossen hat. Vielmehr werden die oben beschriebenen regionalen Möglichkeiten vollständig ausgenutzt.
Vergleiche mit Betrieben anderer Wohlfahrtsverbände und privater Träger nicht zielführend
Das beliebte Argument diakonischer Arbeitgeber, „die anderen in der Sozial- und privaten Wirtschaft tun es ja auch…“, beweist zunächst nur Folgendes: Offenbar haben ver.di und viele andere mit ihrer Kritik am kirchlichen Sonderarbeitsrecht und seinen Folgen für die Beschäftigten ins Schwarze getroffen. Ferner ist es für ein christliches Selbstverständnis ein Armutszeugnis, eigene schlechte und undemokratische Regelungswerke mit dem Personalkostenwettbewerb und den Methoden der Konkurrenz zu begründen. Wer als Wirtschaftsbetrieb handelt, muss auch das geltende bundesdeutsche Tarif- und Arbeitsrecht gegenüber seinen abhängig Beschäftigten anwenden. Zudem: Täglich ist in den Medien von den ver.di-Bemühungen zu lesen, erträgliche, menschengerechte Bedingungen in der Dienstleistungsbranche für ihre Mitglieder zu erhalten bzw. herzustellen. Dies gilt selbstverständlich auch für den Wohlfahrtsbereich und den privaten Sektor. Die Diakonie täte gut daran, hier über eine offensive Unterstützung nachzudenken.
Die kirchlichen Mitarbeitervertretungen – Tiger als Bettvorleger
Bei einem Vergleich mit den rechtlichen Handlungsmöglichkeiten von Betriebsräten weltlicher Betriebe schneiden die kirchlichen Mitarbeitervertretungen schlecht ab: Sie haben
- weniger Freistellungsmöglichkeiten,
- weniger Mitbestimmungsrechte,
- keine Zugangsmöglichkeit zu staatlichen Arbeitsgerichten,
- keine betrieblichen Einigungsstellen,
- keine Unternehmensmitbestimmung,
- Gewerkschaften sind kein Bestandteil kirchlicher Betriebsverfassung und werden teilweise aktiv bekämpft,
- ihre Beteiligung bei Kündigung ist zwar formal besser, faktisch ist der Einspruch eines Betriebsrates jedoch wirksamer,
Weiterführende Texte und Materialien unter:
www.streikrecht-ist-grundrecht.de
Broschüre Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt: „Für gute und gerechte Arbeitsbedingungen in Kirche und Diakonie“
Gutachten Dr. Anna Stefaniak, „Kirchliche Arbeitgeber – angekommen in der Normalität von Markt und Wettbewerb“
ver.di-Positionspapier: „Streikrecht ist Grundrecht – Wettbewerb und Arbeitnehmerrechte bei Caritas und Diakonie“
Studie Hans Böckler Stiftung: Diakonie zwischen Kostensenkung und christlicher Dienstgemeinschaft
Diakonie Texte 06.2011/14.2011 unter www.diakonie.de
Kundgebung: „Zehn Forderungen zur solidarischen Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechtes“ www.ekd.de
Für Rückfragen: berno.schuckart-witsch@verdi.de und georg.guettner-mayer@verdi.de
Anhang | Größe |
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ArbeitsvertragsgrundlagenDiakonie Stand August 2012.pdf | 81.9 KB |
01-Hohe Tarifbindung in der Diakonie.pdf | 140.37 KB |